Tipp Nr. 20: Schulze, Die rechtschaffenen Mörder
Ingo Schulze, Die rechtschaffenen Mörder Das liest sich zunächst wie eine neutral erzählte Biografie eines Buchhändlers. Etwas lapidar berichtet der Tod der Mutter, das Aufwachsen auf deren Büchern, später wird er leidenschaftlicher Leser, geachteter Dresdner Antiquar, der wie eine besondere Festung der Kultur von gleichgesinnten Lesern umgeben wird. Dieser Biografie-Erzählton, der in eine Bücherwurm-Sessel-Situation mit mäßigem Interesse nötigt, na ja, denkt die Leserin. Was soll das schon werden? Aber: Dieser Erzähler ist ein Schlitzohr! Plötzlich ein Ich-Erzähler (hä, wer denn?), gegen den man sofort den Verdacht hegt, ihn schon mal überlesen zu haben. (stimmt, S. 8!) Und dann allerlei Finten und Fährten, plötzlich der Abbruch dieses Romanteils. Der zweite Teil ist in der Ich-Perspektive eines Autors (Schultze, nicht Schulze!) geschrieben, dem die Leserin dann aber schon nicht mehr so ganz über den Weg traut. Auch dieser ergeht sich in Andeutungen und streut wie Hänsel Brösel in das ostdeutsche Ambiente. Im dritten Teil nun bekommen wir es mit der Lektorin jenes Autors zu tun, die den Streuseln folgt, solange sie noch nicht gefressen wurden. Was findet sie? Einen Mord – einen Unfall – einen Doppelselbstmord? Auch mehrere Angebote, den Mörder zu phantasieren und einen ziemlich fiesen Autor, der andere erpresst. Die irritierte Leserin tut etwas, was selten vorkommt: Ich habe diesen Roman direkt ein zweites Mal gelesen! Befund: Brillant erzählte Figurenscharade, schillernde Ost-West Klischees, die sich immer dann aus dem Licht drehen, wenn man ihrer gewiss zu werden droht. Die Figur des großen Lesers, der kulturell mit allen Wassern gewaschen, nur moralisch integer sein kann, sich aber unter erschwerten Wende-Bedingungen (kapitalistischer Literaturbetrieb) zum Radikalinski wandelt?! Das ist toll erzählt, lässt dem Leser genug Luft zum selber entdecken und ich habe den Text auch beim zweiten Lesen sehr genossen. Danke an das Erzähler-Schlitzohr! Kompliment, Ingo Schulze! Lesen!!! Ingo Schulze, Die rechtschaffenen Mörder, Frankfurt/Main 2020 (Fischer, 320 S., 21€)