Georgi Gospodinov, Zeitzuflucht (für Bilder bitte anklicken)
Oh, welch verführerischer Gedanke: Eine Klinik für Vergangenheit, in der Alzheimer-Erkrankte im für sie „richtigen“ Jahrzehnt landen. Richtig ist dasjenige, in dem sie jung waren, an das sie sich mit Hilfe der passenden Accessoires erinnern. Wenn sie in der Gegenwart nicht mehr zu Hause sind, dann in einer wieder-hergestellten Vergangenheit. Möbel, Gebrauchsgegenstände, Kultur (Musik der Zeit, Reprint-Zeitschriften), Politik, Gerüche, Esswaren … Seitdem ich alt bin, interessiert mich die Wahrnehmung von Zeit ungemein. Logisch, oder? Mit im Paket: Sehnsucht nach der Vergangenheit. Bei den Freunden im Bad nach dem uralten Rest Parfüm fahnden, nach der Pfütze der Sorte, die ich vor 40 Jahren trug. Überwältigung durch das Gefühl, halbwegs jung zu sein, gleichzeitig das Bedauern der Versäumnisse und Irrtümer vieler Jahre Leben. An diese Gefühle knüpft Zeitzuflucht unmittelbar an, schmeichelt sich bei mir ein, wird flott verschlungen, Begeisterung auch über die Erzählkonstruktion: Der Ich-Erzähler hat ein Alter Ego namens Gaustin. Geschildert zunächst als der Freund und Arzt, der in vielen Zeiten zu Hause ist, irgendwie fluide, dann diese Kliniken einrichtet, für die der Ich-Erzähler passende Artefakte sammelt. (Beim Aufräumen in der Wohnung unserer Mutter, nachdem sie mit 105 verstorben war, fanden wir im Wäscheschrank ein Stück Seife, das definitiv nach „1960“ roch. Welche Flut von Erinnerungen!) Zunehmend wird unklar, wer wen erzählt? Gustin das Ich? Das Ich Gaustin? Plötzlich wird mir klar, wie sehr ich diesem Erzähler auf den Leim gegangen bin. Hortet nicht jeder über 50 einen Vorrat an Vergangenheit, die wie die gute alte Zeit wirkt? Wie trügerisch. Die gibt’s ja gar nicht – und jeder, der sie uns verspricht, lügt. Das ist die Nachricht. Dieser Roman macht wirklich gründlich Schluss mit nostalgischen Gefühlen und Vorstellungen. Zunächst etwas irritiert, fasse ich zunehmend Lese-Mut und amüsiere mich köstlich über das ganze nostalgische Geplunder, das in den Reenactments auf grausige Weise vorgführt wird. Gospodinov holt eine Menge politisches Kaspertheater des 20. Jahrhunderts aus der Ecke, indem er den Vergangenheitsgedanken weiterspinnt: Immer mehr Menschen wollen in der Vergangenheit leben, die Staaten Europas entscheiden sich per Volksabstimmung für verschiedene Jahrzehnte, in die sie zurückkehren wollen. Die Wahlkämpfe vor den Abstimmungen zeigen den gesammelten Irrsinn der Vorstellung von „früher war alles besser“ auf. Es wird immer absurder. Es steht zu befürchten, dass wir es hier mit einer ganz treffenden Analyse der Gegenwart zu tun haben, die leider hochaktuell ist. Dieser Erzähler ist ein Verführer, der uns mit unseren eigenen nostalgischen Emotionen in eine Falle lockt, in der ich dann ebenso irritiert, amüsiert als auch düster saß. Und schlimmer: dann verschwindet er auch noch… wohin? Zum 1. September 1939? In sprachloses Vergessen? Wer erzählt hier wen? Toller Text, den man richtig erleiden muss! Lassen Sie sich darauf ein. Ich schau derweil mal weiter nach Gospodinov – und sage dann Bescheid, was ich finde… Die Länder des Ostblocks wählen 1989 als Wunschort für den Neustart: „Zu dieser Zeit gab es noch einen unantastbaren Vorrat an Zukunft, und wir teilten ihn mutig auf. Absolut naiv, wie man später sah.“ (Zeitzuflucht, S. 267)