Als die weißrussische Autorin im Oktober 2015 den Nobelpreis für Litertur erhielt, zeigten einige Kritiker sich skeptisch angesichts der Tatsache, dass eine Journalistin ausgezeichnet wurde. Wenn man Secondhand-Zeit liest, verdichtet sich mehr und mehr das Gefühl, dass ihr Verfahren – Komposition von Interviews um ein Thema herum – dem Sujet absolut angemessen, wenn nicht der einzig mögliche Weg ist, den Zustand der nachsowjetischen Republiken und Menschen darzustellen.
Alexijewitsch nennt das Verfahren „Roman in Stimmen“ und was die Leserinnen hier an Kenntnis und Er-Kenntnis der Mentalität der dort Sprechenden gewinnen, fügt sich nach und nach zu einem – allerdings ziemlich deprimierenden – Bild des nachsowjetischen Menschen. Dem Terror des stalinistischen Systems entronnen, in die Sinn-Leere eines Raubtierkapitalismus geworfen, trauern viele der festgefügten Welt der heimlich gelesenen Bücher und der „Küchenpolitik“ nach. An diesem Punkt ist die Form, die die Autorin gefunden hat, konsequent: „Keine Romane mehr!“, möchte man rufen. Fiktionalität ist vorbei oder in den Alltag eingezogen.
Ich konnte den Text teilweise nur zögernd und portionsweise weiterlesen. Es gibt eine Menge sehr schwer verdauliche Schicksale, die sich dort vorstellen.
„Ich dachte nicht einmal gleich daran, das Diktiergerät einzuschalten, um diesen Moment des Übergangs nicht zu verpassen, wo das Leben, das normale Leben zu Literatur wird – auf diesen Moment warte ich immer…“ (S. 394)
Diese Bemerkung der Autorin, die sich sonst sehr zurückhält und hinter ihre „Helden“ zurücktritt, verweist auf ihr Verfahren. Sie hat es zur Meisterschaft gebracht, diesen literarischen Moment zu erspüren. Absolut lesenswert!
Swetlana Alexijewitsch, Secondhand-Zeit – Leben auf den Trümmern des Sozialismus, München 2013